…oder warum ich wirklich nicht nach Indien will!
Noch etwas mir bisher unvorstellbares: Mitten in Europa ist sich ein ganzes Land (oder nur eine Region, die Wallonie?) offensichtlich recht einig, dass Müll zur Landschaft genau so dazu gehört wie Bäume, Tiere, Wege und Straßen. Und so sieht das dann aus, in der „Rue de Pays bas“:
Eine Ausnahme, an verborgener Stelle, oder weil ein Müllwagen umgefallen ist? Nein. Alltag. Nicht immer ganz so viel, aber an allen etwas abgelegeneren Straßen, in Ecken und Nischen, aber auch zwischen Wohnhäusern, auf gestalteten Dorfplätzen, in Parks – Müll. Selbst in den Bordsteinen innerörtlicher Straßen: plattgefahrener Müll.
Wir kommen auf einer unserer Runden an einem Wohnblock vorbei, im dritten Stock ist eine Familie mit zwei Kleinkindern. Schnell wird klar, warum die Wiese unterhalb so vermüllt ist: Sie werfen ihren Hausmüll einfach vom Balkon. Vor den Augen ihrer Kinder.
Die Angler gegenüber von unserem Liegeplatz werfen ihre leeren Bierdosen, nachdem sie einen gewissen Alkoholpegel erreicht haben, einfach in den Fluss, aus dem sie ihren frischen Fisch erobern.
Auf einer Radfahrt kommen wir durch ein mit EU-Mitteln neu gestaltetes Gelände, das aus kurzgeschorenen Wiesen und neuen Straßen besteht, alles mit reichlich Straßenbeleuchtung versehen. Autos verkehren hier kaum, mehrere der Straßen enden nach ein paar -zig Metern vor sperrenden Betonblöcken im Nichts. Grüße aus Absurdistan! Auch hier türmen sich Müllsäcke und Sperrmüll neben den Straßen und erst recht vor den toten Enden. Doch es kommt noch besser: Die straßenbegleitenden Wiesen wurden offensichtlich vor wenigen Tagen gemäht. Die Mähenden haben die Müllsäcke nicht etwa vorher zur Seite geräumt oder gar eingesammelt, nein, sie haben mitten hindurch gemäht. Der Inhalt ist nun kleingehäckselt weiträumig verteilt und bedeckt Fahrbahnen, Wiesen und Büsche.
Dabei gibt es hier in unserer direkten Umgebung: Die Zentrale der Firma Tibi mit geschätzt an die hundert Müllwagen sowie mehrere öffentliche Müllannahmestellen. Es fehlt also nicht an Infrastruktur. Es gibt diverse großflächige Müllsortierflächen, die alle überquellen – der Berg alter Matratzen in einer solchen Müllsammelanlage ist sogar auf Google Earth gut erkennbar, die Berge geschredderten Metalls wachsen täglich, weit über die Trennmauern hinaus. Selbst die kaputt gegangenen Mülltonnen bilden schon einen eigenen Müllhaufen aus Plastik. Auf der einen Flusseite wird Müll gesammelt, sortiert, gelagert, gegenüber in einem heruntergekommenen Stahl- und Blechkoloss befindet sich eine Müllverbrennungsanlage zur Energiegewinnung. Wir haben es an unserem Liegeplatz noch gut: uns trennen von den schlimmsten Stellen einige hundert Meter, der Müllgeruch wird nur gelegentlich bei ungünstigem Wind unangenehm. Die Häuser des Ortes Chatelets stehen teilweise direkt gegen die verfallende Wand des riesigen Sammelplatzes, die Müllverbrennung ist direkt gegenüber vom Ort, der dementsprechend riecht.
Kann man diesen „entspannten“ Umgang mit ihren Abfällen den einzelnen Menschen vorwerfen? Irgendwie nicht. Denn wo so großflächig ehemalige Industrieanlagen flächendeckend verrotten, berghohe Halden aus Bauschutt, Stahlschrott und staubiger Asche aus Hochöfen oder Kraftwerken das Landschaftsbild dominieren, ohne dass sich jemand für die Beseitigung all dessen zu interessieren scheint – wie kann man da vom einzelnen verlangen, dass er Müll als störend empfindet.
Aber das ganze ist so beklemmend, weil es auch grundsätzliche Gedanekn aufwirft: In diesem direkten Nebeneinander von Werden und Vergehen, von Stahlproduktion und rostigen Resten oder Schredderanlagen, von Beton- und Betonfertigteil herstellung und Betonzerkleinerungsanlagen, von Autoverkauf und Autoverschrottung, durch Gleise und Schiffe verwoben, auf denen Sand, Kies, Stahl und mengenweise Schrott von einem dieser Orte zum anderen transportiert werden, kommt einem das ganze menschliche Tun als müßig, sinnlos, vergeblich vor. Sysiphos lässt grüßen. Nur dass jede Runde, die dieser sinnlose Kreislauf dreht, den Aktionären der Betreiberkonzerne Dividenden und den Menschen und der Natur Zerstörung und unverdaulichen Müll auftürmt.