In unserer Wartezeit machen wir zu Fuß und per Fahrrad diverse Ausflüge in die Umgebung auf der Suche nach Schönem.
Wir finden: Eine ganz nette Fritterie ganz in der Nähe. Komisch, diese Idee, ganz verschiedene Dinge zur Auswahl in die Theke zu legen und die gewünschten dann zu frittieren, gibt es ja sonst kaum irgendwo. Fleischspieße, Gemüsespieße, Bulletten, diverse Fleisch- und Geflügezubereitungen stehen zur Wahl, und der nette Mann hinter der Theke erklärt uns geduldig, was das alles ist – nun gut, wir sind die einzigen Kunden. Wir verspeisen die Dinge auf den Tischchen, die vor der Friterie auf dem Gehweg der Straßenkreuzung stehen.
Wir finden: In Charleroi erste Versuche, auch Fahrradfahrern Wege zu verschaffen. Hier und da als richtige Radwege, ja, es gibt sogar Stellen, wo Autofahrern eine Spur weggenommen wurde. Meistens sind es aber nur an die Fahrbahnseite gemalte Pfeile oder gestrichelte Linien, die den Autos immerhin die Existenzberechtigung der Radfahrer aufzeigen sollen. Und an größeren unübersichtlichen Kreuzungen steht man oft ratlos vor der Aufgabe, wie sie zu überwinden ist, ohne unter die Räder zu kommen. Positiv überraschend ist aber: Oft müssen die Radfahrer Fahrbahnen an Fußgängerüberwegen queren. Hier steht immer eine kleinen Vorfahrt-Achten-Schild für die Radfahrer. Trotzdem braucht man sich einem Zebrastreifen auch bloß zu nähern, da halten schon alle Autofahrer an, ob Klapperkiste oder Angeber-SUV, ob Kleinwagen oder LKW. Das geht wirklich prima und rücksichtsvoll.
Und wir finden: Die Menschen, denen man in den doch weitgehend trostlosen Umgebungen begegnet, ob jung oder alt überwiegend ärmlich, entmutigt und heruntergekommen aussehend, schauen einem dennoch offen in die Augen und grüßen auch überwiegend sehr freundlich – etwas, das wir in der sachsen-anhaltinischen Provinz doch weitgehend vermisst haben. Menschen, mit denen man in Kontakt kommt, sind immer freundlich und hilfsbereit. Auch die Schleusenwärter funken zwar wohl nicht so gerne, sind aber ansonsten durchaus nett.
Was wir nicht finden: Irgendwie reizvolle Umgebungen. Auf einem Ausflug in die die Sambre umgebenden Hügel, außerhalb die sie begleitenden Halden, ist es etwas netter, die Umgebung menschlicher. Mehr aber auch nicht – immer wieder werden potentiell positive Eindrücke durch Verfall, Müll oder gestalterische Missgriffe gebrochen. Ein Ausflug führt uns zu einem Park mit einem Schloss. Dieses erweist sich als mit Stahl und Blech erfolglos „gesicherte“ Ruine.
Ganz enttäuschend: Der große, runde Platz in der Mitte von Charleroi, le place Charles II, der, mit dem sich die Stadt als erstes in Reiseführern und online präsentiert, der, der zwischen dem großen Rathaus und der großen Kirche Saint Christophe liegt. Er ist von einem verkehrsberuhigten Kreisverkehr umringt, der die große Platzmitte umringt und die neun Gassen und Straßen, die auf den Platz zulaufen, verbindet. Die Innenfläche ist vor einigen Jahren gestaltet worden, zur Mitte hin leicht gestuft etwas ansteigend, mit einem Kreis aus hochglanzpolierten, abwechselnd schwarzen und hellen Steinen als Pflaster. Dieser umringt wiederum eine Mitte aus Gitterrosten, die ein ca. 1m tiefes Becken überdecken. Evtl. war das mal ein Wasserspiel? Doch die schicken Steine fallen nach und nach die aus ihnen gebildete Stufe herunter, und von den Gitterrosten sind mehrere eingestürzt oder stehen krumm aus der Fläche heraus. Ein Blinder, den den Platz überqueren würde, würde unweigerlich in die so entstandenen Löcher stürzen. Auf diesen Platz blickt nun die einst stolze Rathausfassade, die wie alle anderen Gebäude dieser Stadt von bräunlich-rostigem Staub überzogen ist.
Die Innenstadt von Charleroi ist von einer stark befahrenen Ringstraße umgeben, die auch auf beiden Seiten die Sambre überqueren. Auf unserer Seite der Stadt türmen sich hier zwei Fahrbahnen ÜBEReinander, auf rohen Betonfertigteilen aufgeständert, in Längsrichtung über die unterste, ebenerdige Straße. Auch hier stehen entlang der Trassen Wohnhäuser mit mehreren Etagen. Die Menschen schauen aus ihren Fenstern also zwischen die Fahrbahnebenen, die weniger Metern vor ihren Fassaden stehen, und durch die ein LKW nach dem anderen über die Schlaglöcher und Betonfugen donnert. Noch nirgendwo habe ich so brutalen, rücksichtslosen und menschenverachtenden Straßenbau gesehen.
Wir versuchen es auch mal zu Fuß, wollen einen Hügel an unserem Liegeplatz besteigen – das scheitert, auch diese Hügel erwiesen sich als Halden, die mittlerweile von Wald und Gestrüpp überzogen, aber unzugänglich sind. Wir können nur an deren Fuß entlanglaufen, der begleitet ist von weiteren Betonwerken hinter Mauerresten und einer großen „Decheterie“, eine Müllannahmestelle. Auf der anderen Straßenseite zwischen Fluss und Fahrbahn wieder Betonwerke, Sand- und Kieswerke, verfallene Gewerbebetriebe und zwischen alledem winzige Wohnhäuser. Der Gehweg aus zerbrochenen Gehwegplatten ist nicht einen Meter breit, LKW’s donnern an uns vorbei, eine Staubfahne hinter sich her ziehend. Wie kann man in diesen Häusern wohnen? Wir wollen dieses Elend verlassen mittels einer Brücke über den Fluss, um auf der anderen Seite auf dem uferbelgeitenden Rad- und Fußweg zu unserem Liegeplatz zurückzukehren. Die Fußgängertreppe, die auf die Brücke hoch geht, wie alles hier aus bröselndem Beton, hat zwei Stufen verloren, deren Trümmer auf den untersten Stufen gelandet sind. Wir überklettern die Fehlstellen.
Immerhin finden wir hier etwas lustiges in einem trostlosen Garten. Bitte nur eine Ziege zugleich auf dem Trampolin! Und es gibt Hausbesitzer, die der Zerstörung ihrer Hauswände durch Harnsäure entgegen wirken. Solche Schildern kannte ich bisher nur aus Berichten über Entwicklungsländer unter Titeln wie „nur einer von hundert Einwohnern hat Zugang zu Toiletten“…
Wir finden einen werbenden Text „Charleroi erfindet sich neu“. Gemeint sind die wenigen hundert Meter, die man die Innenstadtseite zum Fluss hin etwas geöffnet hat, mit einem nicht eingemauerten Weg auf dem Botonrand des Flusses, von dem aus es gestuft zur Stadt hinaufgeht. Der recht neu angelegte Weg besteht aus Vierkanthölzern aus Weichholz, die lose nebeneinander liegen. Waagerechte Weichholzuflächen… faulen. Was sonst. Mehrere der Balken sind bereits zur Hälftge weggefault. Viele sind so weit verrutscht, dass ein Kinderfuß locker dazwischen passt. Auch diese „Neuerfindung“ wird in wenigen Jahren hinüber und unbrauchbar sein. Und so ist es überall: Verfall und Zerstörung wird mit noch mehr Beton und Stahl neues Material für baldigen weiteren Verfall bereitgestellt, für viel Geld und mit Mitteln aus EU-Töpfen.
Charleroi ist die traurigste Stadt, die ich bisher kennen gelernt habe.
Und doch haben wir jeden Tag, abends sogar selbstleuchtend, die wahre Schönheit Belgiens vor Augen: